Der Zehnte

Die Positionen zum Zehnten der Bibel sind unterschiedlich. Einige christliche Kirchen, Gemeinden und Gemeinschaften lehren ihre Mitglieder, den Zehnten (also 10 Prozent ihres Einkommens) der Kirche, der Gemeinde, der Gemeinschaft zu geben. Oder anders ausgedrückt: Sie behaupten, dass der Zehnte für Christen immer noch gilt, also bindend, verbindlich ist.

Das stimmt jedoch nicht – oder salopper ausgedrückt: Das ist Blödsinn. Der Zehnte aus dem Alten Testament ist für Menschen, die Jesus nachfolgen, NICHT verbindlich. Um es vorweg zu nehmen: Der Zehnte gilt für

Und eine Bemerkung vorweg:

Im Neuen Bund, im Leben und in der Nachfolge mit Jesus, geht es nicht um den Zehnten, sondern um Geben.

Teil des mosaischen Gesetzes – trotz Abraham

Der Zehnte ist Teil der Gesetzesbestimmungen für das Volk Israel und wird entsprechend unter anderem in folgenden Stellen erwähnt: 3. Mose 27,30–33; 4. Mose 18,21–24; 5. Mose 12,6+11;5. Mose 14,22–29.

Um das Prinzip des Zehnten allgemeingültig zu machen und es nicht als Teil des Gesetzes zu belassen, wird gern die Episode von Abraham und Melchisedek in Genesis 14,17–24 herangezogen. Das Argument: Wenn bereits Abraham – der mehrere Jahrhunderte vor Moses gelebt hat – verzehntet hat, dann ist der Zehnte nicht bloss Teil des Gesetzes, sondern ein universelles Prinzip.

Wer durch Abraham den Zehnten allgemeingültig machen will, übersieht jedoch ein paar wichtige Unterschiede zwischen dem Zehnten des Abraham und dem Zehnten im Gesetz von Moses:

Ausser bei Abraham wird der Zehnte nur noch bei Jakob (1. Mose 28,22) erwähnt, wobei nur sein Versprechen zum Verzehnten erwähnt wird. Bei anderen Menschen wie Adam, Henoch, Noah, Isaak oder Josef gibt es keinen Hinweis, dass sie den Zehnten gegeben haben – und damit auch keinen Hinweis, dass der Zehnte bereits vor dem Gesetz ein allgemeingültiges Prinzip war.

Die Anwendung des Zehnten im Alten Testament

Beim Studium der oben erwähnten Verse zum Verzehnten im 3., 4. und 5. Mose wird folgendes offensichtlich.

Adressaten. Die Verse sind Teil des Gesetzes und der Gesetzesbestimmungen, welche Gott dem Volk Israel gab. Der Zehnte gilt also für Israeliten beziehungsweise für die späteren Juden.
Nutzniesser. Leviten, Fremde, Waisen, Witwen – und die Verzehnter selber.
Grund. Die Leviten bzw. der Stamm Levi hatten kein eigenes Land und waren auf der Versorgung durch die anderen Stämme angewiesen. Die Fremden, Waisen und Witwen waren benachteilige soziale Gruppen und wurden so unterstützt. Die Verzehnter konnten mit dem Ertrag in Jerusalem vor Gott feiern. Hier zeigt sich: Gott in seiner Güte versorgte so diejenigen Menschen, welche sich nicht versorgen konnten und welche benachteiligt waren. Also diejenigen, welche es nötig hatten.
Ablieferung. Sowohl Jerusalem und als auch die einzelnen Ortschaften in Israel.
Häufigkeit. Jährlich.

Israeliten und Juden, welche also kein Vieh und keine Ernteerträge hatten, mussten nicht verzehnten.

Der Zehnte im Neuen Testament: Eine Nebensache

Das Neue Testament enthält wenige Verse, welche die Wörter «Zehnte» und «verzehnten» enthalten, die wenigen Erwähnungen sind in Matthäus-Evangelium, im Lukas-Evangelium und im Hebräerbrief zu finden.

Die Verse in den Evangelien wie Matthäus 23,13 oder Lukas 18,12 beziehen sich auf Pharisäer, also Juden, die danach strebten, das mosaische Gesetz einzuhalten. Diese Verse befinden sich zwar im Neuen Testament, welches als Grundlage für den christlichen Glauben angesehen wird. Aber die Handlung der Evangelien spielt sich ja zum grössten Teil unter Juden im Gebiet von Judäa und Galiäa ab, und zwar vor der Kreuzigung und Auferstehung von Jeus.

Im Kapitel 7 des Hebräerbriefs finden wir in den Versen 1 bis 10 mehrmals den Zehnten erwähnt. In diesem Abschnitt wird unter anderem auf Abraham Bezug genommen, dessen Abgabe des Zehnten – wie wir vorher gesehen haben – ja nur ein einmaliges Ereignis innerhalb einer Erzählung ist. Ironischerweise ist der Anfang von Kapitel 7 der Auftakt zu einer längeren Abhandlung, welche bis Mitte Kapitel 10 reicht. In Hebräer 7,9 ist sogar davon die Rede, dass der Zehnte, den Abraham empfing, indirekt an die Leviten ging.

Kapitel 7 bis 10 zeigen auf, dass das alttestamentliche Gesetz und seine Verordnungen ein Schatten, ein Abbild des wahrhaftigen Heiligtums im Himmel sind, dass der Glaube an Jesus ein besserer Bund ist – und dass die Verordnungen für Nachfolger von Jesus veraltet sind.

Wie der Name des Briefs zeigt, waren die ursprünglichen Adressaten des Briefes Judenchristen. Diese Christen hielten weiterhin die rituellen Forderungen des Gesetzes und schienen wohl in Gefahr zu sein, dabei Jesus aus den Augen zu verlieren.

Unübersehbar und augenfällig ist das grosse Schweigen im Neuen Testament zu diesem Thema. Weder Jesus noch die Schreiber der neutestamentlichen Briefe insistieren auf dem Prinzip des Zehnten, fordern zu dessen Abgabe auf oder warnen diejenigen vor einem Fluch, die ihn nicht bezahlen. Jesus hält die Pharisäer in Matthäus 23,13 zwar nicht davon ab. Doch er weist sie daraufhin, dass sie die «wichtigeren Dinge des Gesetzes» ignoriert haben.

Als die Apostel und Ältesten der Gemeinde in Jerusalem den Heidenchristen in Antiochia, Syrien und Zilizien einen Brief schreiben, erwähnen sie den Zehnten nicht. In Apostelgeschichte 15,29 weisen sie die Empfänger des Briefs auf die Themen Götzenopfer, Blut, Ersticktes, Unzucht hin – nicht jedoch auf den Zehnten.

Der Zehnte für die christliche Gemeinde: Der falsche Transfer

Es wird argumentiert, dass der Zehnte, der früher im Alten Testament angeblich den Leviten zustand, nun als Zehnte des (Brutto-)Einkommens im Neuen Testament in die Gemeinde gehört – womit wahrscheinlich de facto oft die Gemeindeleitung bzw. die Gemeindekasse gemeint ist, welche von der Gemeindeleitung oder Gemeindemitarbeitern verwaltet wird.

Das ist ein bedenklicher Transfer, der bei genauerer Betrachtung nicht funktioniert. Folgende Punkte gilt es bei der „Modernisierung“ des Zehnten zu bedenken und zu erwägen.

Leviten und christliche Geistliche. Die Leviten und die Priester aus dem Alten können nicht mit Pastoren, Predigern, Evangelisten und anderen aus dem Neuen Testament gleichgesetzt werden.

Leviten und die Priester als Teil von ihnen wurden von Gott für ihren Dienst am Zelt der Begegnung und im späteren Tempel ausgesondert. Gott gab explizite Anweisung, dass die Leviten kein eigenes Land besitzen sollten.

Es gibt einige Pastoren, Prediger, Evangelisten und andere Geistliche, die vollzeitlich ihren Beruf in einer organisierten Gemeinde ausführen und von Spenden bezahlt werden. Das ist durchaus eine Möglichkeit, aber nicht die einzige: „Professionelle Geistliche“ sind von der Bibel her nicht verpflichtet, so zu leben und zu arbeiten. Sie könnten beispielsweise 50 Prozent für eine Kirche arbeiten und 50 Prozent einem anderen Beruf nachgehen, welcher zu ihrem Lebensunterhalt beitragen würde. Der Apostel Paulus als Zeltmacher ist diesbezüglich ein Beispiel aus dem Neuen Testament.

Alle Nachfolger von Jesus sind Priester. Stellen wie 1. Petrus 5+9 und Offenbarung 1,6, Offenbarung 5,10 und Offenbarung 20,6 reden davon, dass alle, die Jesus nachfolgen, Priester sind. So gesehen hätten alle, die zur Gemeinde (ekkläsia) von Jesus gehören, Anrecht auf den Zehnten.

Nicht nur Leviten. Wie wir oben gesehen haben, waren die Leviten nicht die einzigen, welche den Zehnten erhielten. Auch Fremde, Waisen, Witwen und die Verzehnter selber hatten Anrecht darauf.

Vieh und Ernteerträge vs. Geld. In den Stellen im 3., 4. und 5 Mose geht es grundsätzlich und Vieh und Ernteerträge. Tatsächlich wird im 5. Mose 14 Geld erwähnt. Jedoch diente es als Erleichterung für diejenigen, die ihr verzehntetes Vieh und ihr verzehnteten Ernteerträge von weither nach Jerusalem bringen mussten. Mit diesem Geld kauften die betreffenden dort dann Essen und Trinken. Geld war in diesem Zusammenhang also nur als Zwischenstufe gedacht.

Zehn Prozent des Bruttoeinkommens in die Kirchen-/Gemeindekasse? Wer den Zehnten wirklich verstanden hat, wird dies wohl nicht unbedacht und unkritisch tun.

Neues Testament: Bedürftige und Benachteiligte weiterhin im Fokus

Es soll hier keineswegs behauptet werden, dass wenn man an Jesus glaubt, kein Geld für andere Menschen ausgeben und spenden soll – dass man also alles Geld nur für sich behalten soll. Bereits das Prinzip des Zehnten im mosaischen Gesetz zeigt ja, dass Gott Menschen dazu anhält, Benachteiligte und Bedürftigte zu unterstützen. Und er will auch, dass Menschen jenseits des Gesetzes – also im Neuen Testament – Benachteiligte und Bedürftige unterstützen. Aber auf durchdachte und bedachte Art und Weise.

[Weitere Erläuterungen folgen in den nächsten Wochen]